Erst die Bildung von großen Gemeinschaften hat es dem Menschen ermöglicht, die Welt so zu erobern, wie er es getan hat. Nicht der einzelne Mensch, sondern Gemeinschaften von Menschen haben das geschafft. Solche Gemeinschaften gibt es bereits bei den Säugetieren, bei denen in Rudeln oder Herden die Kräfte gebündelt werden, um entweder bessere Jagdergebnisse oder bessere Abwehrmöglichkeiten zu haben. Auch die Menschen haben im Laufe der Zeit immer neue Gemeinschaften gegründet, die primär dieselben Ziele hatten wie oben beschrieben.
In frühen menschlichen Gemeinschaften sind die Ziele und Strukturen denen in Tierrudeln oder Herden noch sehr ähnlich, da auch das Leben noch von der Befriedigung der Cerebellus – Bedürfnisse geprägt war. Die Gemeinschaften waren klein, die Organisation einfach, ebenso wie die sozialen Regeln.
Mit Hilfe der Vernunft erarbeitete sich der Mensch immer kompliziertere Modelle der realen Welt, die auch unterschiedliche Arten der Bedürfnisbefriedigung des Cerebellus ermöglichten, mit signifikanten Auswirkungen auf
- den zeitlichen Abstand zwischen Arbeit und Erfolg
- die Größe der zu versorgenden Gruppe
- die Sesshaftigkeit und damit die Dauerhaftigkeit von Beziehungen
- die Differenzierung von Rollen und Fertigkeiten in der Gemeinschaft
Das Modell der Herde/des Rudels mit gemeinsamem Jagen, gemeinsamem Kämpfen und gemeinsamer Brutpflege war nicht besonders abstrakt und noch völlig konsistent mit den Motiven und Instinkten des Cerebellus. Die komplizierteren Modelle verlangten immer mehr und häufiger eine Frustration akuter Bedürfnisse zu Gunsten langfristigen Erfolgs. Um stabile Verhältnisse zu bekommen, denn der Cerebellus ist immer Teil unseres Entscheidungsprozesses und lässt sich nicht dauerhaft überstimmen, muss die Gemeinschaft ein Bedürfnis befriedigen, das einen Teil der negativen Energien des Cerebellus-Frusts aufnehmen kann. Dieses Bedürfnis entspringt einem abstrahierten Modell der einfachen Bedürfnisbefriedigung, dem Wunsch nach Gerechtigkeit, das heißt der Wunsch, dass es mir durch Einordnen in die Gemeinschaft, indem ich die Regeln befolge und meinen Beitrag erbringe, ermöglicht wird, aus eigener Kraft meine Bedürfnisse zu befriedigen. Eine Gemeinschaft ist dann stark, wenn sie allen Mitgliedern den Glauben erhalten kann, dass ihr Wunsch nach Gerechtigkeit erfüllt wird.
Tatsächlich gehört fast jeder Mensch heute vielen Gemeinschaften an, von denen sich zwei Typen dadurch auszeichnen, dass sie geschichtlich gesehen sehr stabil sind und dass jeder Mensch mindestens einer davon zugehört, das sind die Religion und der Staat.
Religion
Religionen beantworten zunächst vor allem die Frage nach dem Ursprung der Welt und dem Sinn unserer Existenz. Beides Fragen, die nach Kant einerseits durch den Gebrauch unseres Verstandes automatisch hervorgebracht werden, die dieser andererseits aber nicht entscheiden kann. Zusätzlich liefert Religion mit der Antwort zum Sinn unserer Existenz meistens auch ein Verhaltensmodell für den Einzelnen, um sein Bedürfnis nach Gerechtigkeit zu erfüllen. Häufig findet der Ausgleich nicht vollständig in die eigene Lebenszeit, sondern findet in einem jenseitigen oder neuen Leben statt.
In Staaten, die mit Gewalt aufrechterhalten werden, wird das Bedürfnis nach Gerechtigkeit nur für eine kleine Minderheit erfüllt, daher sind sie normalerweise auch nicht stabil. Ausgleichend kann in ihnen die Religion eine große Bedeutung erlangen, eben aus diesem Grund.
Der demokratische Staat nun legt mit seiner Verfassung genau den Eid ab, allen seinen Mitgliedern, d.h. jedem Bürger/jeder Bürgerin, das Bedürfnis nach Gerechtigkeit zu erfüllen.
Eine gute Maßzahl für die Qualität einer Staatsform wäre sicherlich der Grad an Zufriedenheit innerhalb der Bevölkerung, in dem Sinne, wieviel Prozent der Bürger glauben, dass ihr Staat das Versprechen auf Gerechtigkeit einhält und wieviel Prozent mit ihrer persönlichen Freiheit zufrieden sind. Dabei sind diese beiden Werte durchaus getrennt zu betrachten. In Diktaturen sind beide Werte eher klein, in China zum Beispiel könnte der erste Wert durchaus groß sein, der zweite vielleicht eher klein. Eine Demokratie sollte in beiden Werten relativ hoch sein, interessant wäre eine Festlegung von unteren Grenzwerten, ab denen eine Demokratie noch als stabil gelten kann.